Frage

Wie erlebt die Zivilbevölkerung die Besatzung durch den Feind?

 
 

Die im Jahre 1907 verabschiedete Haager Konvention über die "Gebräuche im Landkrieg" sieht auch klare Maßgaben für die Besatzung vor: Die Bevölkerung in besetzten Städten und Dörfern darf sich den Anordnungen der Besatzungsmacht nicht widersetzen, sie kann allerdings protestieren und Gerechtigkeit einfordern. Der Besatzer hat ziemlich genau definierte Rechte und Pflichten. Er muss Beschlagnahmungen quittieren und darf die einheimische Bevölkerung nicht zu Arbeiten zwingen, die direkt auf den Krieg bezogen sind.

Im Ersten Weltkrieg werden diese Gebote zunächst mehr oder weniger eingehalten. Die Bevölkerung in besetzten Gebieten ist noch nicht zu beliebigem Menschenmaterial zur Befriedigung der eigenen Ansprüche verkommen. Es gibt zwar immer wieder Übergriffe, aber Raub, Mord und Vergewaltigung sind keineswegs an der Tagesordnung, sondern bleiben - oft auch streng geahndete - Ausnahmen. Es gilt auch zu unterscheiden zwischen kurzfristigen Besetzungen durchmarschierender Truppen einerseits und längerfristigen Besetzungsverwaltungen sowie dem Leben unter denselben andererseits.

Osterreichische Truppen bei der Hinrichtung serbischer Zivilisten im Jahr 1915
Österreichische Truppen bei der Hinrichtung serbischer Zivilisten im Jahr 1915
© LOOKS/drakegoodman

So wird die russische Offensive in Ostpreußen im August 1914 von Raub, Mord, Verwüstung und der Verschleppung von Zivilisten begleitet. Auch die Besetzung Serbiens durch die österreichisch-ungarische Armee ist geprägt von Kriegshass und Exzessen gegen die Zivilbevölkerung. Das gilt ebenfalls für den deutschen Vormarsch durch Belgien im August 1914, nicht aber flächendeckend für die lange Zeit der deutschen Besatzung in Belgien und Nordfrankreich von September 1914 bis November 1918.

Besatzungsregime im Westen


Im Westen erlebt die Zivilbevölkerung in den kriegsbesetzten Städten und Dörfern den Feind zwar als ungemein lästig, auch als permanente Bedrohung, aber in Phasen längerer Besatzung kommt es zu sozialen Kontakten. Die Bevölkerung darf unter Umständen in die Regiments-bibliotheken und zu Filmvorführungen, Soldaten verteilen Lebensmittel oder helfen gar bei der Ernte. Sehr viele Fotos zeugen von solchen - propagandistisch ausgeschlachteten, aber tatsächlich existenten - friedlichen Situationen inmitten des Krieges. Diese Freundlichkeit ist aber nicht durchgängig, sondern stark von wechselnden Kriegssituationen bestimmt.

Deutsche Soldaten kaufen Obst an einem Stand im besetzten Belgien
Deutsche Soldaten kaufen Obst an einem Stand im besetzten Belgien.
© LOOKS/Library of Congress

Besonders einschneidend wirkt sich aus, dass in Deutschland ab Mitte 1915 Lebensmittel und Rohstoffe immer knapper werden, was zum Teil durch Misswirtschaft, zum Teil aber auch Folge der sogenannten Hungerblockade der deutschen Häfen durch die englische Flotte ist. In dem Maße, wie die Heimat Hunger leidet, wird der Umgang der Besatzer mit der einheimischen Bevölkerung im Kriegsgebiet brutaler und die Haager Ordnung streckenweise gar nicht mehr beachtet. Beschlagnahmungen oder Requirierungen von Nahrungsmitteln und Rohstoffen sind an der Tagesordnung, auch die Ausbeutung durch Strafzahlungen aus nichtigem Anlass gehört dazu. Mit zunehmender Kriegsdauer werden auch Zwangsarbeiter massiv für Stellungsbau und Demontagen feindlicher Befestigungen und Infrastruktur eingesetzt. All dies geschieht im klaren Widerspruch zur Haager Landkriegsordnung.

Deutscher Soldat neben Arbeiterinnen in einer Textilfabrik im  belgischen Menen
Industrieproduktion für die Besatzungsmacht: Ein deutscher Soldat steht neben Textilarbeiterinnen in einer Fabrik im belgischen Menen.
© Kulturhistorisches Museum Rostock

An der Ostfront ist die Ausbeutung und Drangsalierung der Zivilbevölkerung erheblich größer als im Westen. Hier sind oft rassische Kategorien handlungsleitend, auch wenn es noch keine systematischen Übergriffe etwa auf die jüdische Bevölkerung gibt. Zusätzlich wird im Osten - im Unterschied zum Westen – auch eine Germanisierungspolitik betrieben. Die Menschen werden gezwungen, Deutsch zu lernen und sich die deutsche Kultur anzueignen, da der eroberte Teil des Zarenreiches nie wieder an Russland zurückgegeben werden soll. Grundsätzlich ist die Zivilbevölkerung im Ersten Weltkrieg kein Freiwild des Krieges. Sie bleibt von massenhafter Deportation und Vernichtung größtenteils verschont. In dieser Hinsicht ist der Erste Weltkrieg anders als der Zweite Weltkrieg noch kein totaler Krieg.