Frage

Wie werden innere Feinde behandelt?

 
 

Zu Beginn des Krieges ruft Kaiser Wilhelm II. den sogenannten Burgfrieden aus: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche". Konkret heißt das, dass die Verfolgung und Ausgrenzung der Sozialdemokraten aufhören soll, dass sich Katholiken und Protestanten vertragen sollen und dass schließlich auch die Juden als Teil der Nation anerkannt werden.

Der Jubel über diese Einheitsfront gegen den äußeren Feind ist gewaltig und bis heute als "Augusterlebnis" bekannt. Der innere Frieden währt jedoch nicht lange. Vor allem für die Schwierigkeiten an der Heimatfront werden bald Sündenböcke gesucht. Bereits im Winter 1914 scheren die antisemitischen Verbände, unter anderem der Alldeutsche Verband und der Reichshammerbund, aus dem Burgfrieden aus und fangen an, pauschal die Juden für den Verfall der Preise, für kriegsbedingte Arbeitslosigkeit und für die Misswirtschaft mit den knappen Versorgungsgütern verantwortlich zu machen. Katholische Priester reden in Predigten eher vom Krieg als einer Strafe Gottes als die staatstragenden protestantischen Pfarrer, die den Wahlspruch "Gott mit uns" als Tatsache und nicht als Bitte "Gott sei mit uns" behandeln. Die Anhänger eines "Siegfriedens" fangen an, sich mächtig mit den wenigen Vertretern eines "Verständigungsfriedens" zu streiten. Letztere gelten schlicht als "vaterlandslose Gesellen". Kriegsverweigerer wie die Linkssozialisten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg werden verfolgt und ins Gefängnis gesperrt.

Karl Liebknecht
Der deutsche Sozialist und Kriegsgegner Karl Liebknecht (1871-1919): 1916 wird er wegen Hochverrats angeklagt und zu mehr als vier Jahren Zuchthaus verurteilt.
©LOOKS/Library of Congress

Am schlimmsten aber ist die angeordnete Judenzählung im deutschen Heer im Oktober 1916. Mit dieser soll festgestellt werden, ob sich wehrfähige Juden verstärkt dem Frontdienst entziehen und hinter den Linien in der Etappe beschäftigt werden oder gar zu Hause bleiben dürfen, während die anderen ihren Kopf "für das Vaterland" hinhalten müssen. Das ist auch eines der Hauptargumente, die Hitler später in der Hetzschrift "Mein Kampf" für seinen Antisemitismus nennt. Die Judenzählung, die im Heer konsequent durchgeführt wird, ergibt zwar einwandfrei, dass der Anteil jüdischer Soldaten, ihrer Gefallenen und Verwundeten prozentual mindestens so hoch ist wie derjenige der anderen Deutschen, aber das gegenteilige Gerücht bleibt bestehen und pflanzt sich mit unheilvollen Wirkungen bis in die Weimarer Republik fort.

Suche nach Sündenböcken


Auch in Frankreich, Großbritannien und Russland mehren sich mit den Kriegsleiden die Proteste. Sie richten sie sich wie in Deutschland weniger gegen den Krieg an sich als gegen angeblich bevorzugte Minderheiten. Auch hier kommt es zu antisemitischen Ausbrüchen. In Frankreich gibt es sogar noch mehr Proteste und Streiks gegen die angebliche oder tatsächliche Ungleichbehandlung, gegen "Schieberei" und Vorteilswirtschaft als in Deutschland. In Russland kommt es während des Krieges zur Verfolgung und Vertreibung unerwünschter Minderheiten wie der Baltendeutschen. Hier setzt auch mit dem Beginn der Revolution im Februar 1917 ein unerbittlicher innerer Krieg zwischen "Roten" und "Weißen" ein, d.h. zwischen Kommunisten und Anhängern des zaristischen Regimes, die sich auf den Tod hassen und auch nach Kriegsende weiterhin bedingungslos morden.

Blick auf die Massendemonstration gegen die Friedensbedingungen des Versailler Vertrages im August 1919 im Berliner Lustgarten
Eine Massendemonstration gegen die Friedensbedingungen des Versailler Vertrages im August 1919 im Berliner Lustgarten
© dpa - Bildarchiv

Gegen Ende des Krieges beginnt in Deutschland die Suche nach Sündenböcken für die Niederlage: Wer oder was hat die Kampfmoral der Soldaten gebrochen? Wie konnte es zu dem ehrlosen Waffenstillstand und schließlich zum "Schandfrieden" von Versailles kommen, in dem die Deutschen unterschreiben mussten, dass sie allein am Kriege schuld sind und deshalb auch für alle Kriegsschäden ihrer Gegner geradestehen müssen? Am Kriegsende werden die Kommunisten für die Niederlage verantwortlich gemacht. Da sich unter ihnen relativ viele Juden befinden, verbreiten die Nationalisten das bösartige Hetzwort vom "jüdischen Bolschewismus". Statt eines "Burgfriedens" herrscht am Ende des Krieges eine Stimmung in Deutschland, in der der innenpolitische Gegner zum tödlichen Feind geworden ist und Attentate und Mord zum politischen Alltag gehören.