Frage

Warum gibt es nach 1918 keinen dauerhaften Frieden?

 
 

Der Versailler Frieden von 1919 wird von den Siegern diktiert und muss von den Unterlegenen angenommen werden, weil sonst der Krieg einfach weitergeführt würde. Das ist die Ausgangslage eines nicht enden wollenden Kampfes um den Frieden.

Die Siegernationen vertreten den Standpunkt, dass der Erste Weltkrieg ein Verbrechen war, für das die Schuldigen büßen und bezahlen müssen. So sagt es der französische Präsident Raymond Poincaré bei der Eröffnung der Pariser Friedenskonferenz und so wiederholt es Ministerpräsident Georges Clemenceau bei der Übergabe der Friedensbedingungen an Deutschland Anfang Mai 1919. Der Krieg hat so viele Opfer gefordert, dass die Siegermächte einen Schuldigen finden müssen, um die eigene Bevölkerung emotional zu entlasten und die überlebensnotwendigen Reparationszahlungen zu erhalten.

Der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau, der britische Premierminister David Lloyd George und der amerikanische Präsident Woodrow Wilson verlassen den Palast Versailles
Der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau (vorne links)  und der US-Präsident Woodrow Wilson (Mitte) verlassen den Palast Versailles nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags, 28. Juni 1919.
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Mit Ausnahme der USA sind die Siegernationen nämlich nahezu genauso ausgeblutet wie die Verlierer. In Frankreich ist das industriell wichtigste Gebiet, der Norden, verwüstet; Hunderte von Städten und Dörfern sind dem Erdboden gleichgemacht; die Menschen, die während des Krieges evakuiert worden sind, warten zu Hunderttausenden auf ihre Heimkehr. Als Erklärung für diese Katastrophe bietet sich die klare Brandmarkung der Deutschen an, zumal die alliierte Propaganda vier Jahre lang unablässig das Bild des bluttriefenden, mordenden und vergewaltigenden Deutschen geprägt hat. Der Wunsch nach einer Abrechnung verwundert daher wenig. "Hang the Kaiser" ("Hängt den Kaiser") - dieser englische Wahlspruch, dem sich die Politiker unterordnen müssen, beherrscht die Emotionen und die Debatte.

Die Ruinen der französischen Stadt Reims
Die Ruinen der alten französischen Krönungsstadt Reims: Ganze Landstriche in Nordfrankreich und Belgien sind am Kriegsende völlig verwüstet.
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Die Deutschen hingegen fühlen sich zutiefst ungerecht behandelt. Sie sind und bleiben der Auffassung, einen gerechten Verteidigungskrieg geführt zu haben. Vor allem verstehen sie nicht, wieso sie nach all den Siegesmeldungen und dem Triumphgeschrei der Propaganda sowie der militärischen und politischen Verantwortlichen plötzlich als Verlierer dastehen – und mehr noch: als Verbrecher.

"Kein Feind hat Euch überwunden"


Wenn der führende Sozialdemokrat und spätere Reichspräsident Friedrich Ebert im Dezember 1918 die nach Berlin zurückkehrenden Regimenter mit dem Ruf begrüßt "Kein Feind hat Euch überwunden", dann tut er das aus einer elementaren Notwendigkeit heraus. Für die Zukunft der gerade ausgerufenen deutschen Republik ist es entscheidend, dass sich die circa sieben Millionen zurückkehrenden Soldaten wieder ins Zivilleben einordnen.

Der deutsche Sozialdemokrat Friedrich Ebert
Der deutsche Sozialdemokrat Friedrich Ebert (1871-1925): Am 9. November 1918 wird Ebert die Regierungsverantwortung in Deutschland übertragen. 1919 wird er Reichspräsident.
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Wenn aber kein Feind das Heer besiegt hat, warum hat Deutschland dann trotzdem verloren? Warum muss Deutschland in Versailles einen "Schandfrieden" unterzeichnen, in welchem festgelegt wird, dass Deutschland alle Schäden zu bezahlen hat, die den Siegern entstanden sind? Sehr schnell sind viele davon überzeugt, dass die Niederlage durch Verrat zustande gekommen ist. Die Führer der deutschen Armee, General Erich Ludendorff und Feldmarschall Paul von Hindenburg, nähren diesen Glauben, indem sie geschickt von der eigenen Verantwortung für die militärische Niederlage ablenken. Immer wieder betonen sie in ihren Aussagen vor dem Untersuchungsausschuss der Deutschen Nationalversammlung wie auch in ihren Memoiren, dass die Heimat schuld an der unerwarteten Niederlage gewesen sei.

Dolchstoß in der Heimat


Die Heimat? Das ist ein weiter und vager Begriff, daraus lässt sich kein Schuldiger formen. Es bietet sich an, diejenigen Revolutionäre des "Dolchstoßes" zu bezichtigen, die nach dem Streik der Matrosen in Kiel die Republik ausgerufen, den Kaiser abgesetzt und den Waffenstillstand unterschrieben haben. Sind das nicht dieselben Leute, die schon den Munitionsarbeiterstreik vom Januar 1918 angezettelt haben? Sind das nicht Linke, Kommunisten gar, die seit der Russischen Revolution von einem Frieden "ohne Annexionen und Kontributionen" geredet haben und ohnehin die Welt revolutionieren wollen? Die äußerste Rechte geht noch einen Schritt weiter: Für sie sind es die Juden, die hinter allem stehen, die Deutschlands Untergang wollen, um selber die Weltherrschaft anzutreten. Das bereitet Adolf Hitler den Weg, indem er unablässig verspricht, die Schmach der Niederlage und des "Schandfriedens" von Versailles zu tilgen, die Verräter zu bestrafen und den ungerecht verlorenen Krieg schließlich doch noch zu gewinnen. Nie ist Hitler in Deutschland beliebter als 1940, als ihm mit dem Sieg über Frankreich diese Revanche gelungen zu sein scheint.