Frage
Wie wird der Hass auf den Gegner geschürt?
Zum modernen Krieg gehören Begeisterung für die eigene Sache und Hass auf den Gegner. Wie sonst sollen die Millionen Zivilisten, die in Uniformen gesteckt werden und ins Feld marschieren müssen, bei Stimmung gehalten und zum Kampf motiviert werden?
Vor dem Krieg gibt es in Deutschland bei aller Rivalität zu Frankreich, Russland und Großbritannien keinen wirklichen Hass. Es existiert weder ein Propagandaministerium noch eine ähnliche Institution, die den Hass schürt. Mit dem Krieg ändert sich das schlagartig, vor allem in Frankreich und Großbritannien. Der Grund dafür ist, dass die deutschen Soldaten mit Kriegsbeginn völkerrechtswidrig das neutrale Belgien überfallen und dort gegen alles vorgehen, was sich ihnen in den Weg stellt. Die Deutschen haben nicht mit belgischem Widerstand gerechnet, halten die angeblichen Heckenschützen in gewisser Weise für illegitim und gehen gegen die Bevölkerung mit äußerster Brutalität vor. Auch Frauen und Kinder werden nicht geschont. Es gibt belgische Dörfer und Städtchen wie Ath und Dinant, wo Hunderte von Zivilisten an die Wand gestellt und erschossen werden.
Eine Familie im belgischen Dinath: An dieser Mauer richteten deutsche Truppen Bewohner des Ortes im August 1914 hin.
© LOOKSfilm
Insgesamt 6500 Zivilisten – Männer, Frauen und Kinder – werden beim Vormarsch der deutschen Truppen durch Belgien und Frankreich ermordet. Für damalige Verhältnisse sind das ungeheure Zahlen. Dazu kommt die Zerstörung zehntausender Gebäude in Frankreich und Belgien durch deutsche Truppen, darunter Kulturdenkmäler wie die weltberühmte Bibliothek von Löwen/Leuven und die Kathedrale von Reims. Von nun an ist für Belgier, Franzosen und Briten, aber auch für viele neutrale Länder der deutsche Aggressor ein bluttriefender Barbar, was in Tausenden von Karikaturen und Bildern der grässlichsten Art aufgegriffen wird. Jetzt hat der Krieg einen untilgbaren Sinn, nämlich Frankreich und die gesamte europäische Zivilisation, ja sogar die ganze Menschheit vor dem Zugriff der barbarischen Horden zu schützen.
Ein amerikanisches Plakat aus dem Jahr 1917: Kaiser Wilhelm II. als Teufel auf einem Berg von Schädeln
© LOOKS/Library of Congress
In Frankreich und England entstehen in kürzester Zeit private und staatliche Organisationen wie die "Maison de la Presse" und das "Wellington House", von denen diese Propaganda orchestriert und immer wieder aufs Neue angefacht wird. Propaganda wird ab diesem Zeitpunkt zu einer neuen Kriegswaffe. In Frankreich und Großbritannien erklären sich auch Wissenschaftler und hoch geehrte Kulturträger dazu bereit, sich an dieser Propaganda zu beteiligen. Sogar der Schulunterricht wird auf Krieg umgestellt. In den Schulbüchern tauchen schnell kriegsbezogene Gedichte, Erzählungen und Mathematikaufgaben auf. Eine Frage lautet: Wie viele Deutsche oder "Hunnen" kann man mit wie vielen Kugeln aus einem Maschinengewehr in einer halben Stunde töten, wenn das Maschinengewehr 120 Schuss pro Minute abfeuert?
Propaganda in Deutschland
In Deutschland bleibt die Propaganda vergleichsweise zurückhaltend. Als 93 deutsche Wissenschaftler und Intellektuelle im "Aufruf an die Kulturwelt" vom Oktober 1914 auf die Barbarei-Vorwürfe antworten, tun sie dies in gemäßigter Sprache und mit einem sechs Mal wiederholten: "Es ist nicht wahr". Feuer und Flamme hat das nicht - genau so wenig wie die deutschen Propagandaplakate, die bis zum Ende des Krieges darauf verzichten, den Gegner zu verteufeln.
Ein Beispiel für zurückhaltende deutsche Propaganda: Ein Plakat des Kriegsausschusses für Öle und Fette ruft Kinder auf, Obstkerne zu sammeln und in die Schule zu bringen.
© LOOKS/Library of Congress
In Deutschland hält der Krieg auch viel weniger Einzug in das schulische Leben. Die Behörden bemühen sich, die Kinder soweit wie möglich vom Krieg fernzuhalten. Regierung und Militär scheuen davor zurück, die Bevölkerung aufzuwiegeln. Lieber soll im Inneren alles ruhig bleiben und die Bevölkerung sich darauf beschränken, für die Soldaten "Liebesgaben" zu sammeln und zu beten. Das ist der Unterschied zwischen mobilisierten Demokratien wie Großbritannien und Frankreich und mobil gemachten autoritär regierten Monarchien wie Deutschland und Österreich-Ungarn. Es besteht kein Zweifel, dass diese Diskrepanz mitentscheidend dafür ist, dass die Heimatfront der Franzosen und Briten länger und besser hält als die der Deutschen und Österreicher. Auch die Kampfkraft der Soldaten wird durch diesen mehr oder weniger starken Rückhalt aus der Heimat entscheidend gestärkt beziehungsweise geschwächt.