Frage

Mit welchen Gefühlen ziehen die Menschen 1914 in den Krieg?

 
 

Die Bilder mit den jubelnden Menschenmengen im August 1914 sind bekannt: Fröhlich winkende Soldaten in Eisenbahnwaggons mit Aufschriften wie "Nach Paris, mich juckt die Säbelspitze" oder "Auf Wiedersehen auf den Boulevards". Deshalb haben Historiker lange geglaubt, dass die Menschen sich im August 1914 über den Krieg freuen – ja, dass sie regelrecht begeistert sind, in den Krieg ziehen zu dürfen.

In Wahrheit stellen diese Bilder nur Ausnahmesituationen in Großstädten wie Berlin, Frankfurt und München, oder auch Paris und St. Petersburg dar, wo tatsächlich Menschenmengen auf die Straßen drängen und wo sich die Soldatentransporte aus dem ganzen Land treffen und kreuzen. Deren Hurra-Geschrei ist jedoch nicht repräsentativ für das Denken und Fühlen der meisten Menschen. Viele sind weniger begeistert als vielmehr aufs Höchste erregt.

Jubelnde Menschmenge in Berlin nach Kriegsausbruch
Menschen in Berlin jubeln nach der deutschen Kriegserklärung.
© LOOKS/Library of Congress

Davon zeugen die kollektiven Paniken wie etwa die Jagd auf vorgebliche Spione oder die Plünderung und Verwüstung von Geschäften mit vermeintlich ausländisch klingenden Namen wie z.B. "Maggi". Aber auch das passiert fast ausschließlich in den Großstädten. Auf dem Land, in den Dörfern und kleinen Städten herrschen eher Bedrückung und Sorge um das auf hohem Halm stehende Korn. Wer soll die Ernte einbringen, wenn die Männer im Krieg sind? Bei genauerem Hinsehen sind es vor allem die Tränen der Frauen und Mütter beim Abschied, die in den Bildern und schriftlichen Überlieferungen aus dieser Zeit hervorstechen. Auch die angebliche Begeisterung der aus den Zügen winkenden Soldaten spiegelt eher eine stolze Entschlossenheit der Millionen Männer wider, die glauben, für die Verteidigung ihres Vaterlandes in den Krieg ziehen zu müssen.

Ein verwüsteter deutscher Laden in Paris
Ein deutscher Laden in Paris, der bei Ausschreitungen nach dem Kriegsausbruch verwüstet worden ist.
© LOOKS/Library of Congress

Entschiedenheit, Stolz, Opferwille sowie ein als neu und befreiend empfundenes Gemeinschaftsgefühl sind die Stimmungen und Überzeugungen, die den "August 14" in Deutschland prägen. Sie schlagen sich im gemeinsamen Singen patriotischer Lieder wie "Es braust ein Ruf wie Donnerhall" und "Deutschland, Deutschland über alles" nieder.

Britische Soldaten winken aus Eisenbahnwaggons
Britische Soldaten auf dem Weg zur Front, 1914/1915
© LOOKS/Library of Congress

Diese Stimmung empfinden die Zeitgenossen als eine Art heilige Begeisterung, als Spiegelbild einer in der Not zusammen-geschweißten, geradezu religiösen Gemeinschaft. Genauso ist es in Frankreich, wo trotz der starken innenpolitischen Zerklüftungen eine "Union Sacrée", eine Heilige Einheit, proklamiert und über Jahre hinaus befolgt wird, gilt es doch, den "heiligen Boden des Vaterlandes" (so heißt es ja schon in der Marseillaise, der französischen Nationalhymne) gegen den deutschen Eindringling zu verteidigen. Sicherlich hätten die Menschen anders reagiert, hätten sie auch nur geahnt, dass die Soldaten an Weihnachten nicht wieder zu Hause sind, sondern mehr als vier Jahre lang Krieg führen würden und jeder dritte Soldat sterben oder schwer verwundet werden würde.