10.11.1918
Die rote Fahne
Deutsche Republik! Liebe Emmie, ich habe die Rote Fahne gesehen. Es begann am letzten Montag – wir lasen in den Abendzeitungen, dass sich die Matrosen in Kiel erhoben, ihre Offiziere entwaffnet, die rote Fahne auf allen Schiffen gehisst haben und dass die Regierung praktisch all ihren Forderungen nachgegeben hat. (...) Am Freitag auf dem Weg zum Mittagessen sah ich in einer der Hauptstraßen eine dichte graue Menschenmenge mit einer roten Fahne an der Spitze auf mich zukommen. Ich muss sagen, ich stand da wie angewurzelt, mein Herz schlug bis zum Hals. Wie Du weißt, habe ich seit Wochen auf diesen Moment gewartet, aber wenn er da ist, verschlägt es Dir den Atem. Es waren ein paar hundert Soldaten in ihrem "Feldgrau", aber ihre Schulterriemen, Nummern, Gürtel und Waffen waren verschwunden. Ich geriet neben einen Soldaten in voller Marschausrüstung mit Sturmgepäck. (...) "Es ist zu Ende", sagte er, "es ist alles aus." Ich stellte weitere Fragen, aber er stolperte weiter wie im Traum; ich glaube nicht, dass er wirklich etwas sah oder hörte oder dachte. Er wiederholte immer nur: "Es ist zu Ende, es ist alles aus."